Von Ramona, meiner Polarnomadin, konnte ich ja so vieles kennenlernen und sie hat mir auch so einige Ohrwรผrmer verpasst – und glaubt mir, die meisten von diesen „Meisterwerken“ wollt ihr nicht freiwillig in euren Gehirnwindungen haben ๐ Aber einer von all diesen ist hรคngen geblieben, auch noch lange, nachdem sie in Oulu ihren Flieger zurรผck in die Schweiz bestiegen hat: Bella Ciao, wohl die bekannteste Hymne der anarchistischen, antifaschistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegungen… und auch die inoffizielle Titelmusik von der Netflix-Serie „Casa de Papel“. Und genau durch diese Serie hat mir Ramona diesen Ohrwurm eingepflanzt. Sie, eine stolze Netflix-Abo-Besitzerin, hat mir die Serie ganz am Anfang unserer gemeinsamen Reise zum Nordkapp gezeigt, woraufhin wir jeden Abend in unseren Zelten eine oder zwei (oder auch mehr) Folgen zusammen angeschaut haben. Dies meistens in ihrem Zelt, da sie anschliessend gleich im warmen Schlafsack liegen bleiben konnte, wรคhrend ich nochmals raus und durch den eisigen Wind des Nordens musste, um zurรผck in mein Zelt zu gelangen – wo dann ein eiskalter Schlafsack und nicht selten auch ein paar Spinnen auf mich warteten. So lagen wir da jeweils irgendwo in der Wildnis von Norwegen im Zelt (Alle Bilder hier), tranken zum aufwรคrmen Minttu, knabberten irgendwelche Sรผssigkeiten, schauten Casa de Papel und stรถrten die Ruhe mit unseren Bella-Ciao-Gesangskรผnsten. Wieso dieser Blogpost mit Bella Ciao anfรคngt, dazu komme ich gleich!
Als ich den Hafen von Helsinki erreiche, regnet es in Strรถmen. Wie endlos lange Fรคden sieht der Regenschauer in den Flutlicht-Scheinwerfern aus, welche den riesigen Platz vor mir beleuchten. Zu den grossen Scheinwerfern gesellen sich hunderte kleine leuchtende rote Punkte, die Bremslichter von den Autos welche alle noch irgendwie Platz im Bauch der Fรคhre finden mรผssen. Geisterhaft erhebt sich diese hinein in den dunklen Nachthimmel, weit รผber den Bereich hinaus, welcher von den Scheinwerfern abgedeckt wird. Nur eine grosse Stahlwand mit der Aufschrift des Betreibers ist sichtbar, alles andere verschwindet im Schwarz der Nacht – wie die Spitze bei einem Eisberg, bleibt der Grossteil des Schiffes im Verborgenen.
Der Radweg endete in dem Moment als ich den Hafen erreichte, und nun stehe ich etwas ratlos auf diesem grossen Platz. Zwischen all diesen Lichtern die richtige Schlange zu finden um auch noch auf das Schiff zu kommen, erscheint wie eine unmรถgliche Mission. So schlรคngle ich mich langsam und vorsichtig durch die wartenden Fahrzeuge weiter, in der Hoffnung so tatsรคchlich den CheckIn-Schalter zu finden. Chocolate verfรผgt zwar รผber eine Lichtanlage, nur hat sich das Rรผcklicht vor lรคngerer Zeit verabschiedet. รber dem Polarkreis, wo 24 Stunden lang die Sonne schien, war das damals รผberhaupt kein Problem. Nur holt mich jetzt meine Faulheit ein. Hรคtte ich doch dieses Licht mal repariert… Hier auf diesem Platz bin ich definitiv der schwรคchste Verkehrsteilnehmer und bin aufgrund des Regens selbst mit dem Flutlicht nur schwer zu erkennen.
Nach mehreren Minuten Irrfahrt, kann ich durch den Regenschleier endlich ein gelbliches Licht erkennen. Aus dem gelblichen Licht werden mit jedem Meter welchen ich nรคher komme Buchstaben, und schon bald bin ich mir sicher den Checkin gefunden zu haben. Ein Mann in meinem Alter (also noch jung ๐ ), grinst mir mit einem breiten Lรคcheln aus seiner trockenen und geheizten Kabine entgegen. Er prรผft kurz meinen Pass und scannt den Code des Tickets auf meinem Telephon und schon bin ich durch. Direkt danach lรคsst der Regen etwas nach und ich kann weitere hunderte von Fahrzeugen erkennen, welche alle ebenfalls auf die Verladung warten. Bis meine Reifen endlich รผber die Stahlplatten rollen, welche das Festland mit dem Schiff verbinden, dauert es nochmals fast eine ganze Stunde. Zu meiner Verwunderung werde ich im Deck mit den Lastwagen platziert und nicht auf einem der anderen drei Decks welche nur fรผr Autos sind. Das Deck ist bereits bis auf den letzten Meter mit Lastwagen gefรผllt und so binde ich Chocolate mit einem herumliegenden Tau an der einzigen Sรคule fest, welche nicht durch ein Fahrzeug blockiert ist. Abschliessen muss man das Fahrrad hier nicht… wo wollen sie auch hin damit? Die Lenkertasche mit den wichtigen Sachen nehme ich aber mit und stรผrze mich in den Irrgarten der schmalen Gรคngen zwischen den LKW’s um die Treppe hoch zum Passagierdeck zu finden.
Das Schiff hat locker die Grรถsse eines Kreuzfahrtschiffes und das Passagierdeck verfรผgt รผber mehrere Restaurants, Bar, Shops und einem grossen Atrium mit Bรผhne. In der Hoffnung dass hier heute noch etwas passiert, setzte ich mich vor die Bรผhne und warte… und warte… und warte. Bis dann doch etwas passiert! Mit einem tiefen Grollen erwachen die Schiffsmotoren zum Leben und kurze Zeit spรคter ziehen die letzten Lichter von Helsinki draussen vor dem Panoramafenster des Atriums vorbei. Wir sind unterwegs, und das nur mit einer halbstรผndigen Verspรคtung! Da auf der Bรผhne jedoch auch weiterhin nichts passiert, vergnรผge ich mich mit Peoplewatching, was besonders dann interessant wird, als die Bar die letzte Runde verkรผndet. Wรคhrend Alkohol in Finnland nรคmlich relativ teuer ist, ist dieser hier auf dem Schiff spottbillig – und die Leute durstig.
Weit nach Mitternacht erkenne ich wieder Lichter ausserhalb vom Atrium, die Lichter von Tallinn. Es wird auch Zeit, denn eigentlich hรคtte ich vor 10 Minuten bei meinem Airbnb einchecken mรผssen.
Die Verspรคtung betrรคgt mittlerweile fast eine Stunde und zu meiner grossen Erleichterung geht das Deboarding relativ zรผgig, obwohl ich warten muss bis alle Lastwagen das Schiff verlassen haben. Wieder rollen meine Reifen รผber die geriffelte Stahlplatte zurรผck auf das Festland und somit hinein ins Baltikum. Der Regen hat endlich komplett nachgelassen und nur die Pfรผtzen auf den Strassen zeugen noch von dem Regen der vergangenen Stunden. Ich muss mich beeilen um endlich zu meiner Unterkunft zu kommen, denn so lange ich nicht da bin, so lange kann die Inhaberin noch nicht schlafen gehen. Und es ist mittlerweile schon fast 1 Uhr morgens.
So rase ich durch das Hafengelรคnde und hinein in die Stadt. Was mir sofort auffรคllt, ist, dass ich ordentlich durchgeschรผttelt werde. Im schwachen Licht meines Scheinwerfers (vorne funktioniert ja zum Glรผck noch), sind die vielen Schlaglรถcher fast nicht zu erkennen und nicht selten erwische ich eines von denen mit voller Wucht. Mein Airbnb liegt etwas ausserhalb der Stadt und je weiter ich mich vom Zentrum entferne, umso mehr รคndern sich auch die Gebรคude um mich herum. Die schรถnen Gebรคude der Altstadt machen grauen Plattenbauten und baufรคlligen Hรคusern Platz. Die Schilder und Werbeplakate zeigen eine Sprache welche sehr รถstlich erscheint und so langsam dรคmmert es mir, dass ich (wieder) in Osteuropa angekommen bin. Und genau in dem Moment setzt sie ein… die Melodie von Bella Ciao. Und ja, ich weiss, dass dieses Lied seinen Ursprung in Italien hat, jedoch erinnert es mich extrem an die UdSSR und alle damit verknรผpften Bilder welche mir so im Kopf herumschwirren. Und genau jetzt, in dieser dunklen Nacht wo die Regenwolken schwer in der Luft hรคngen, die Plattenbauten noch grauer wirken als wie sonst und ich von einem Schlagloch zum nรคchsten fahre, genau jetzt werden alle diese Bilder bestรคtigt. Und dazu spielt im Hintergrund Bella Ciao!
Die Musik treibt mich regelrecht an und ich lege die 7 Kilometer lange Strecke innert wenigen Minuten zurรผck. Jemand ruft meinen Namen, nur kann ich nicht die Person erkennen zu welcher die Stimme gehรถrt. Es ist schlicht zu dunkel in diesem Teil der Stadt. Eine zierliche und sehr dรผnne Frau tritt aus dem Schatten eines Baumes in das schwache gelbe Licht der Strassenlaterne. Es war wohl ein leichtes fรผr meine Gastgeberin mich zu erkennen. Schnell zeigt sie mir den Eingang zur Wohnung, รผbergibt mir die Schlรผssel und verschwindet wieder in dem Schatten des Baumes – Endlich kann sie schlafen gehen.
Innert wenigen Minuten entpacke ich Chocolate und trage das ganze Gepรคck hinauf in die Wohnung, welche sich als… รคhm naja etwas speziell erweist. Die Regale sind voll mit High Heels, Leder und Nieten, die Bilder an der Wand zeigen sehr explizite Inhalte, mitten im Raum steht ein Arztstuhl und darรผber hรคngt eine Pistole an einem Haken – ich bin nicht in einem Airbnb gelandet, sondern in einem SM-Studio. Das kommt wohl davon, wenn man die Beschreibung nicht komplett durchliest und alle Bilder anschaut. Zur Sicherheit schliesse ich noch schnell die Tรผre ab, nicht dass hier noch ein mit Leder bekleideter Gast hineinmarschiert. Der Rest der Wohnung ist top… die Dusche ist warm, das WiFi funktioniert und das Bett weich (einfach nicht daran denken was hier schon alles getrieben wurde). Auf einem Bild steht „kneel for the heel“, ich lache und denke mir nur… wenn das der Stalin gewusst hรคtte ๐
Okay ganz kurz: Tallinn sieht bei Tageslicht viel hรผbscher aus. Viiiiel hรผbscher! Die Altstadt kann sich echt sehen lassen.
Nach zwei Nรคchten in meinem SM-Studio fahre ich weiter und verlasse Tallinn in Richtung Westen. Estland kann ein wahres Paradies sein um verlassene und geschichtliche Orte zu finden und auf meiner Karte habe ich ein paar davon markiert. Als erstes mรถchte ich zu einem Ort wo auf einem Feld verstreut ganz viele alte Bunkeranlagen sind, von welchen niemand weiss, wieso sie eigentlich genau dort sind. Der Strassenverkehr wird kurz nach Tallinn merklich weniger und sogar Radwege sind fรผr einen grossen Teil vorhanden. Die Bunker-Ruinen welche ich am frรผheren Nachmittag erreiche sind jedoch etwas ein Reinfall. Viele von denen sind komplett zerstรถrt oder zerfallen und viele sind gar nicht mehr sichtbar, da sich die Natur bereits so ziemlich alles zurรผckgeholt hat. Also fahre ich weiter zu einem Militรคrfriedhof, welcher mitten in einem abgelegenen Wald liegt und welcher mit ziemlich einfallsreichen Grabsteinen auffรคllt:
Mit dem Anblick des roten Sterns auf dem Leitwerk beginnt automatisch wieder die Musik in meinem Kopf zu spielen…. oh bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao… sorry, aber ich kann’s nicht abstellen!
Die Sonne steht zwar bereits schon etwas tief als ich den Friedhof verlasse, jedoch reicht die Zeit noch zum nรคchsten vergessenen Ort, ein Ort welcher sich auch zum campieren gut eignen sollte. Denn nur wenige Kilometer entfernt befindet sich Rummu, eine alte russische Einrichtung welche vor Jahrzehnten aufgegeben und teilweise geflutet wurde. Die massiven Mauern und die vielen Wachtรผrme lassen nur erahnen, was hier frรผher wohl wichtiges hergestellt wurde (also echt, ich weiss es nicht. Jemand von euch?). Ich finde direkt gegenรผber von dem gefluteten Gebรคude einen perfekten Platz zum campieren und kann so gerade noch den Sonnenuntergang รผber dem verlassenen Ort anschauen (so verlassen ist der Ort mittlerweile รผbrigens nicht mehr, denn ein „Adventure-Unternehmen“ inklusive Strandbar hat sich dort eingemietet).
Von Rummu aus fรผhrt meine Route relativ direkt nach Sรผden nach Riga. Auf einem Highway mit viel zu vielen Lastwagen kรคmpfe ich ums รberleben und bin endlos glรผcklich Abends heil einen Platz zum schlafen hinter einem verlassenen Hangar zu finden. Dieser ist nun endlich mal so wie ich mir ein „UdSSR-Hangar/Bunker“ vorgestellt habe – und noch in erstaunlich gutem Zustand! Seine abgerundeten dicken Mauern schauen nur ein klein wenig aus dem dichten Wald, wenn man jedoch auf die andere Seite des Konstrukts geht, รถffnet sich ein grosses schwarzes Loch vor einem dort wo frรผher wohl die Kampfjets reingeschoben wurden. Das Innere des Hangars ist so schwarz, dass man nur wenige Meter erkennen kann. Aber weit vom Inneren kann ich ein konstantes Tropfen hรถren und auch etwas was sich irgendwie lebendig anhรถrt. Ich wรผrde ja mit der Taschenlampe hineingehen, jedoch ist Estland auch noch fรผr etwas anderes bekannt als wie fรผr seine verlassenen Orten: Bรคren. Die dichteste Bรคrenpopulation von Europa ist in Estland, und es ist nicht mal ganz sooo unwahrscheinlich einem dieser pelzigen Tiere รผber den Weg zu laufen. Und so ein verlassener dunkler Hangar ist doch einfach eine zu perfekt Bรคrenhรถhle. Nein, da setze ich mich lieber vor mein Zelt, koche meine Pasta und hรถre einen Podcast.
Als mein Abendessen fertig ist, sind auch die letzten Sonnenstrahlen verschwunden und die Dunkelheit hรผllt den Wald, den Bunker und mich komplett ein. Ich schlinge den letzten Lรถffel meiner Pasta hinunter und freue mich schon auf den bevorstehenden „Film-Abend“ in meinem Zelt, als ich in meinem rechten Blickwinkel auf einmal eine kleine Bewegung wahrnehme. Sofort schalte ich die Lichtstรคrke der Stirnlampe auf volle Leistung und leuchte in die Richtung der Bewegung. Und tatsรคchlich… da sitzt etwas ziemlich grosses circa zweihundert Meter von mir entfernt auf dem kleinen Pfad und kuckt mir beim Essen zu. Das etwas ist zu gross fรผr einen Fux aber zu klein fรผr einen Bรคren. Jedoch ist es sehr pelzig und seine Ohren erinnern stark an einen Bรคren. Vielleicht ein Baby-Bรคr? Hmmm wรคre ja irgendwie kuschelig so ein Baby-Bรคr, jedoch ist dann die Mutter bestimmt auch nicht weit… Also stehe ich auf, mache mich so gross wie mรถglich und schlage mit dem Lรถffel auf die nun leere Pfanne. Sofort verschwinden die leuchtenden Augen im Loch des Hangars und ich starre auf den leeren Fleck auf dem Pfad, wo gerade noch etwas pelziges sass. Wisst ihr, es sind genau diese Momente bei einer Radreise, wo man sich fragt „Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?“. Die Momente wenn man alleine in einem dunklen Wald sitzt, und irgendwelche „Monster“ einem heimlich beim Essen zuschauen und nur auf einen unaufmerksamen Moment um sich selbst ein Stรผck Essen zu holen. Ich habe genug von verlassenen Orten und verkrieche mich in mein Zelt – meine Festung gegen alles Bรถse da draussen – stelle den Computer an und starte „Casa de Papel“.
Bella Ciao, Bella Ciao, Bella ciao ciao drรถhnt es durch den dunklen Wald… ihr bekommt mich nie!!
PS: Ramona wenn du das hier liest, dieser Ohrwurm ist fรผr dich:
Come on Barbie, let’s go Party….
Aqua, barbie girl