Riga, 18 Grad, Dauerregen, die Frisur sitzt… also irgendwo verborgen unter der Mütze. Heute würde sich die Stadt gut für eine Loreal-Werbung eignen, denn das Wetter zeigt sich von der absolut schlechtesten Seite. Als ich gestern hier durchgefahren bin, war es noch ein Mix aus Wolken und Sonnenschein und ab morgen müsste es bereits wieder gleich aussehen. Aber heute, an meinem Ruhetag, sieht es eher ein bisschen nach Weltuntergang aus. Also Zeit für einen Stadtrundgang, denn Riga ist selbst bei schlechtem Wetter eine Augenweide.
Die Routenplanung für die nächsten Tage sieht eine flache Gegend vor, welche nur selten von Flüssen oder See durchkreuzt werden und auch sonst auf der Karte eher langweilig erscheint. Nur Wälder und Felder gibt es hier, tief draussen im Baltikum, und so geniesse ich die Brücke über den Fluss «Düna» am nächsten Tag umso mehr. In Richtung Norden kann ich noch die Skyline von Riga erkennen und im Strassengraben zeugen die Verpackungen von Fastfood-Ketten davon, dass eine Grossstadt nicht weit entfernt sein kann. Die Strasse direkt nach der Hauptstadt von Lettland ist entsprechend überfüllt mit Autos und Lastwagen und für Chocolate und mich bleibt nur wenig Platz auf dem schmalen Seitenstreifen. Dafür geht es mit Rückenwind und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 25km/h zügig in Richtung Süden. Und so muss es auch sein, denn der kalte europäische Winter hängt mittlerweile knapp an meinen Fersen. Vorbei ist das warme Wetter von vor ein paar Wochen in Finnland und Estland, und die dunklen grauen Wolken besuchen mich nun mehrmals wöchentlich und jedesmal ist es ein paar Grad kälter.
Nach mehreren Tagen im Sattel erreiche ich die Hauptstadt von Litauen, Vilnius. Diese Stadt war so eigentlich nie geplant, denn eigentlich liegt sie viel zu weit östlich von der ursprünglichen Routenplanung. Aber ich muss hier irgendwie in bisschen Zeit totschlagen, denn bis zur Rückkehr in meine Heimat habe ich noch gute zwei Monate Zeit – und die direkte Strecke wäre in weniger als einem Monat zu schaffen. Also gibt es in Vilnius mal wieder eine längere Ruhepause, eine Ruhepause welche ich für so lange Zeit noch nie hatte seit der Ankunft in Europa Mitte Mai. Direkt an dem Hauptplatz in der Mitte der Stadt finde ich ein kleines Hostel mit einer grossen Bibliothek, einer gut ausgestatteten Küche und gesprächigen Gästen. Aus 3 Nächten werden vier und aus vier werden sieben. Jeden Morgen früh schickt die Herbstsonne ihre Strahlen durch das grosse Fenster in meinem Dorm, von welchem aus man dem Treiben auf dem grossen Platz direkt darunter zuschauen kann. Ich liebe die Stadt für das was sie ist, denn sie verbindet perfekt die Moderne mit der Vergangenheit, die Wolkenkratzer mit verwinkelten kleinen Gassen und den Tante Emma Laden findet man direkt neben dem Starbucks. Was sonst in Europa eher selten nebeneinander oder miteinander funktioniert, scheint in Vilnius noch möglich zu sein. Mein langer Aufenthalt hier hat aber auch noch einen anderen Grund: ich brauche ein Visum für Weissrussland. Es ist somit das erste Visum welches in einer Botschaft unterwegs beantragt werden muss, seit dem Visum für Myanmar, welches ich damals in Laos beantragt habe vor über 2.5 Jahren. In diesen 2.5 Jahren sind weitere 40’000 Kilometer zusammengekommen und weitere 29 Länder und 3 Kontinente durchquert worden… es wird langsam Zeit nach Hause zu gehen. Doch vorher möchte ich nochmals ein bisschen durch fremde Städte gehen, noch ein bisschen Tourist sein, noch ein bisschen die Fremde spüren und nochmals neue Gewürze auf meinem Gaumen erleben. Also auf ins Getümmel auf dem Platz unter mir.
Mit neuen Eindrücken aber ohne Visum fahre ich ein paar Täge später hinaus aus Vilnius. Das mit dem Visum hat leider nicht so geklappt wie geplant, denn der bürokratische Aufwand sowie die Kosten waren einfach zu hoch für den Kurzurlaub in Weissrussland. Es ist viel einfacher das Land über Polen zu umfahren.
So fahre ich nun über einen frisch asphaltierten Radweg durch den Park nach Westen. Die Baumkronen über mir versperren den Blick auf den strahlend blauen Himmel, die Sonne schafft es jedoch ein paar mal bis hinunter auf den Radweg. Jeder Sonnenstrahl wärmt für einen Bruchteil einer Sekunde mein Gesicht und jedes Mal geniesse ich diesen kurzen Augenblick. Denn die Temperaturen sind während den Ruhetagen in Vilnius nochmals merklich weiter gesunken. Radfahren ohne Handschuhe und mehreren Schichten Kleider ist nicht mehr möglich und ich frage mich so langsam wie kalt es sein wird bis zu meiner Ankunft in zwei Monaten. Wenn das so weitergeht, wird campieren eine Herausforderung, besonders da dann alle Wasserflaschen am nächsten Morgen gefroren sind und es so fast nicht mehr möglich ist Kaffee zu kochen… ja, das ist eigentlich meine grösste Sorge 😉
Aber bis dahin geht es ja noch eine Zeit und heute Abend ist campieren auf jeden Fall noch kein Problem. Also geniesse ich die Zeit auf den geschlossenen Campingplätzen, auf welchen nun gratis campiert werden kann. Manchmal findet man diese idyllisch gelegen an Seen oder inmitten von scheinbar endlosen Wälder und natürlich bin ich jedes Mal der einzige Besucher – Paradies!
Das Kies knirscht unter den Reifen und mit einem lauten Quietschen welches von der Bremsscheibe her kommt, halte ich vor einem heruntergekommenen Haus. Ein älterer Mann sitzt in sich zusammengesunken und schlafend an einem Tisch vor dem Gebäude, mit einer leeren Bierdose vor ihm – ein sicheres Zeichen, dass sich hier ein Laden befindet. Und Bingo, mit einem Ruck öffne ich die Türe und stehe vor mehreren halbgefüllten Regalen. Endlich! Nach der ewigen Fahrt über die gerade Strasse welche durch die dichten Wälder führte, kann ich einen kleinen Snack nun so richtig gebrauchen. In der etwas mickrigen Auswahl suche ich die besten Artikel zusammen und bezahle schlussendlich für ein paar Kekse sowie eine Dose Getränke, welche aussieht als könnte Fanta darin sein.
Zur Grenze nach Polen sind es nur noch wenige Kilometer und rein theoretisch könnte ich bereits heute dort ankommen. Doch da ich nicht in Eile bin, habe ich mich entschieden noch einen kleinen Umweg nach Süden zu machen, um einem litauischen Skigebiet einen Besuch abzustatten, welches sich nur ca. 40 Kilometer entfernt von der eigentlichen Route befindet. Egal wo ich bisher war, Skigebiete hatten bisher immer einen besonderen Reiz für mich, denn ich hatte selbst jahrelang für eines in der Schweiz gearbeitet. Und es ist sehr interessant zu sehen wie der Rest der Welt seinen Skiurlaub verbringt, egal ob in Kanada, im Iran oder in Argentinien. Also schlürfe ich die überzuckerte Brühe des fanta-ähnlichen Getränks hinunter, ziehe die Handschuhe an, und begebe mich zurück auf die Strasse welche wieder tief hinein in den nächsten Wald führt.
Ich erwarte demnächst am Horizont die ersten Berge zu sehen, denn schliesslich fahre ich nun direkt auf ein Skigebiet zu welches sich nur noch wenige Kilometer entfernt befindet. Doch es kommt nichts. Kein Berg, kein Hügel noch nicht mal auch nur eine winzig kleine Erhebung. Alles was ich sehen kann sind Bäume, noch mehr Bäume sowie eine grosse Werbetafel am Strassenrand welche Traumpisten in nur noch 20 Kilometer Entfernung verspricht.
Nach weiteren 20 Kilometern passiere ich das Ortschild von dem Skiresort und sehe… nix! Noch immer keine einzige Erhebung weit und breit, dafür fahre ich nun auf einer breiten Strasse mit begrüntem Mittelstreifen. Ein Hotel reiht sich an das nächste, und in den Schaufenster der Sportgeschäften glänzen die Neuheiten des Wintersports. Zahlreiche Restaurants buhlen um die wenigen Gäste, welche hier in dicker Winterjacke oder in Funktionsbekleidung über den Gehweg schlürfen. Alles sieht so aus wie in einer typischen Wintersport-Region wie ich sie aus den Alpen kenne, nur, dass es hier keine Alpen gibt. Es ist ein bisschen so, als hätte man ein paar hundert Skiurlauber in den Bergen in einen Bus gesetzt und hier, hunderte Kilometer weiter nördlich, wieder ausgeladen.
Es dauert ein ganze Weile bis ich endlich das «Skigebiet» von diese litauischen Ort am westlichen Stadtrand erkenne. Dort draussen, inmitten von einem weiteren dichten Wald, erhebt sich ein riesiges eckiges Gebäude wie ein Ufo aus den Bäumen und überragt diese um dutzende Meter. Das Gebäude ist so gross, es würde selbst in einer Stadt wie Dubai auffallen! Und das mitten hier draussen in Litauen… Noch interessanter ist aber der Fakt, dass dieses Gebäude mit einer Gondelbahn, welche über einen grossen Fluss führt, mit der Stadt verbunden ist. Und so verstehe ich endlich den ganzen Hype, welcher um diese kleine Stadt herum besteht. Die Litauer möchten Skifahren, haben jedoch keine Berge. Also haben sie einfach ihre Berge quasi selbst gebaut und einfach eine riesige Skihalle gebaut. Und mit der Anreise per Gondelbahn fühlt sich das Ganze im Winter mit den verschneiten Bäumen sehr wahrscheinlich auch verdammt echt an. Trotzdem, ich bevorzuge da doch das Original und verbringe somit den folgenden Ruhetag in der zweiten Attraktion der Stadt, einer nicht minder grossen Bäderlandschaft mit vielen diversen Saunas und Rutschen. Noch ein letztes Mal entspannen bevor es durch die Kälte des europäischen Spätherbst zurück in die Schweiz geht, zurück zu dem Ort, welchen ich vor knapp 3.5 Jahren verlassen habe
Gewaltsam rüttelt der Wind an den losen Wellblechen welche dadurch unerträglich laut an den Stahlrahmen der kleinen Hütte geschlagen werden. Wobei Hütte eigentlich übertrieben ist, handelt es sich doch nur um einen kleinen Unterstand, nicht grösser als wie 3.5 Meter auf knapp 1.5 Meter. Doch nach einem Tag im Dauerregen kombiniert mit starkem Gegenwind, fühlt sich dieser kleine Unterstand wie das Hilton an und an den Lärm von dem Wellblech kann man sich irgendwie schon auch noch gewöhnen. Als ich vor ein paar Stunden hier ankam, war es bereits so dunkel, dass ich diesen kleinen Unterstand fast übersehen hätte. Gedanklich habe ich mich schon damit abgefunden, ungeschützt im Wind draussen campieren zu müssen.
Ich schaue hinaus aus dem Unterstand in den Regen und die tiefschwarze Nacht. Die dunklen Regenwolken blockieren jegliches Licht vom Mond und Strassenlaternen gibt es in der näheren Umgebung auch nicht. Ich befinde mich kurz vor Warschau auf einem Feld, welches am westlichen Rand durch einen grossen Fluss begrenzt wird. Das Zelt konnte ich so aufbauen, dass es nur ca. einen Meter aus dem Unterstand herausschaut, was aber aufgrund des starken Windes kein Problem ist. Der Regen wird einfach komplett darüber weggeblasen. Auch Chocolate hat in den engen Verhältnissen einen trockenen Platz gefunden und selbst eine kleine Stelle zum kochen konnte ich auf der kleinen Bank einrichten. Wie gesagt, besser als wie jedes Hilton 😉
Dann wenn ich zuhause bin, werde ich wohl über solche Abende und Erlebnisse schmunzeln. Oder noch besser, wenn ich dann mal zuhause bin in warmen vier Wänden, wo es fliessendes sauberes warmes Wasser auf Knopfdruck sowie ein komfortables grosses Bett gibt, und ich draussen den Sturm und Regen hören kann, dann werde ich mit einem Lächeln an diesen Moment zurückdenken, da ich weiss, dass es auch mit viel weniger im Leben funktioniert.
Kuhgebimmel weckt mich am nächsten morgen und durch den Zeltstoff kann ich bereits erkennen, dass die Sonne draussen scheint. Der Lärm von dem Wellblech und die Windgeräusche von dem Sturm sind der Stille gewichen und ich kann nur ein paar vereinzelte Vögel hören – und dieses Kuhgebimmel, welches nun ein ganzes Stück näher ist. Also öffne ich, noch eingepackt im Schlafsack, den Reissverschluss des Zelt und schaue hinaus. Nur wenige Meter neben mir steht eine Kuh, welche mich mit grossen Augen anschaut. Weiter hinten kann ich noch ein weiteres gutes Dutzend andere Kühe erkennen. Es sieht so ein bisschen so aus, als wäre die Kuh direkt vor meinem Zelt von den anderen geschickt worden, um herauszufinden was es mit diesem komischen braunen Stoffding in dem Unterstand zu tun hat.
Mit der linken Hand finde ich den Reissverschluss von dem Schlafsack und befreie mich von meinem warmen Bett. Meine Bewegungen erschrickt die Kuhe direkt vor mir, welche nun mit grossen Schritten nach hinten ausweicht. Ihre Reaktion hat ebenfalls einen Effekt auf die anderen Kühe, welche nun ebenfalls das Weite suchen. Gut so. Denn mit Kühe beim Campingplatz habe ich bisher nicht nur gute Erfahrungen gemacht.
Tatsächlich scheint über mir die Sonne an einem fast wolkenlosen Himmel und sofort ist meine Motivation zurück. Heute geht es noch für ein paar wenige Kilometer entlang einer vielbefahrenen Strasse nach Warschau, wo es dann endlich mal wieder eine Dusche sowie ein Bett in der Wärme gibt. Während ich frühstücke, zieht sich jedoch der Himmel wieder zu und die nächsten grauen Regenwolken schieben sich langsam vor die Morgensonne. Noch vor den ersten Regentropfen kann ich das Zelt abbauen und mein Hab und Gut zurück auf Chocolate schnallen. Ich will gerade abfahren, als ich ein metallisches Klimpern höre, welches langsam näher kommt. Auf einem schrottreifen Fahrrad und in einem blauen verdreckten Overall kommt mir der Landwirt des Feldes entgegen, verlangsamt seine Geschwindigkeit, schaut mich neugierig aber auch ein bisschen verwirrt an und setzt dann seine Fahrt über das Feld zu seinen Kühen fort.
Noch ein bisschen schaue ich ihm nach, bevor ich mich selber auf den Sattel schwinge und im Slalom um die vielen Kuhfladen zurück auf die Hauptstrasse fahre. Kaum bin ich dort angekommen, setzt der Regen ein und begleitet mich bis fast nach Warschau. Als ich mich der Hauptstadt nähere nimmt auch wieder der Verkehr merklich zu und die Reise wird mal wieder einmal mehr zu einem Überlebenskampf. Erst kurz vor dem Stadtzentrum finde ich einen Radweg, welcher entlang des Ufers der Weichsel führt und mich so direkt bis zur gebuchten Airbnb-Unterkunft führt, welche inmitten des Finanzdistrikt liegt, umgeben von Wolkenkratzern, Banken und Starbucks.
Die Wärme und das richtige Bett ist quasi eine Übung für das, was in 54 Tagen wieder Standard sein soll. Dann, wenn ich wieder zurück zuhause bin! Aber das dauert noch 54 Tage. Bis dann, werde ich nochmals Europa verlassen, nochmals Freunde treffen welche ich schon einmal auf dieser Reise besucht habe, auf Radwegen unterwegs sein, welche ich bereits vor fast 3.5 Jahren befahren habe und nochmals einen völlig ungeplanten Abstecher in ein völlig ungeplantes Land einlegen. Ach ja und dann zum Schluss werde ich doch noch im Schnee stecken bleiben bevor das grosse Finale, die Rückkehr nach Hause erfolgt. Aber dies, im nächsten Blogpost!
Hasta pronto amigos!!