Ich fühle mich wie ein Fischstäbchen – nicht wegen des Geruchs, sondern wegen der Kälte welche mich umgibt. Es sind gefühlte 10 Grad und ohne einen Blick aus dem Zelt zu wagen weiss ich, dass es ein nebliger Morgen ist. Das ist es nämlich schon seit Tagen mit praktisch keiner einzelner Ausnahme, seit wir (Aldo und Cookie) auf den Highway No. 101 eingebogen sind und der Westküste folgen. Immerhin reissen die Wolken zuverlässig bis spätestens Mittag auf und so können wir uns an der Sonne wieder aufwärmen. Trotzdem… Sommer ist irgendwie anders.
Von draussen höre ich das Klappern von Zeltgestänge. So wie es scheint, ist Aldo und Cookie bereits wach und dabei die Zelte abzubauen. Also leider wirklich Zeit aufzustehen, da ich im Gegensatz zu den anderen noch etwas mehr Zeit benötige um Wasser für den Kaffee aufzukochen. Seit wir täglich auf den Hiker/Biker Campingplätze übernachten, welche es hier überall an der Küste des Bundesstaat Oregon gibt, hat sich so etwas wie Routine eingestellt. Packen, Radfahren, Cookie-Break, Radfahren, Mittagessen, Radfahren, «Einchecken», Zelt aufbauen, Kochen, Quatschen, Schlafen. Und am nächsten Tag das Ganze nochmals von vorne. Schön, aber irgendwie auch nicht mehr das abenteuerliche Radreisen, welches es vorher mal war.
Kurz nach 9 Uhr treten wir in die Pedalen und dürfen gleich als erstes einen kleineren Anstieg erzwingen. Immerhin ist die Sonne heute in guter Stimmung und bekämpft erfolgreich den Nebel, welcher vom Meer hineinzieht. Zwischen den Bäumen ziehen kleine Nebelschwaden durch, während zur gleichen Zeit die Sonne hindurchscheint. Es kann nur noch wenige Minuten dauern, bis die warmen Sonnenstrahlen endgültig unsere halbverfrorene Haut erreicht. Und als wäre es Timing, scheint die Sonne rechtzeitig auf uns herab, als wir den höchsten Punkt des kleinen Hügels erreichen. Der Himmel sieht aus, als wäre es niemals neblig gewesen und ein strahlendes Blau erstreckt sich entlang dem Ufer in Richtung Süden – unsere Fahrtrichtung.
Aldo und Cookie scheinen heute Tour de France Fahrer zu sein, denn ohne das wunderschöne Panorama zu geniessen, rasen sie ins nächste Tal hinab. Eigentlich schaffen wir es sowieso eher selten zusammen zu fahren, aber irgendwie schaffen wir es immer wieder beim Mittagessen vollzählig zu sein. Meistens treffe ich als letzter ein, da der Highway 101 einfach echt zu schön ist um nicht Fotos zu schiessen. Zusammen zu reisen ist schön, wenn auch anders… und anders muss ja nicht immer schlecht sein 😉
Wir verlassen die Westküste und folgen der Strasse nach Südosten. Endlich zweigt hier die Avenue of the Giants vom Highway ab und so können wir nicht nur eine relativ verkehrsfreie Strasse befahren, sondern sind auch noch umgeben von hohen – also ich meine richtig hohe – und vor allem dicken Bäume umgeben: Die Redwoods! Eventuell habt ihr von diesen schon mal gehört, da diese irgendwie zu San Francisco dazugehören, auch wenn es noch viele Meilen bis dorthin sind.
Damals in den 60ern als das Autofahren total trendy war und sich noch niemand um Abgaswerte gekümmert hat, haben die Amis überall sogenannte «drive thru’s» gebaut – Etwas machen ohne das Auto zu verlassen. Essen bestellen und entgegennehmen bei McDonalds gehört hier noch zu den bekannteren Sachen, welche auch in Europa mittlerweile zum Alltag gehören. Hier kann man aber auch durch die Apotheke rasen und Medikamente kaufen ohne das Fahrzeug zu verlassen, oder durch die Seitenscheibe Geld am Automaten abheben, oder «wandern» auf Autowanderwegen uvm. Und in den Redwoods sind die Bäume so gross, dass man hier durch einen Baum fahren kann. Ja genau richtig! DURCH einen Baum. Einen lebendigen sogar! Klingt verrückt, müssen wir machen! Hier der Beweis:
Die Strecke durch die Redwoods ist mehrere Meilen lang und wir geniessen die angenehmen Temperaturen welche die Riesen uns spenden. Denn mittlerweile sind wir mehrere Meilen von der Küste entfernt und erst als wir die Redwoods verlassen wird uns der Einfluss vom pazifischen Ozean auf das Wetter an der Westküste erst richtig bewusst. Waren wir in den letzten Tagen immer mit Pullover und Jacke unterwegs, so ist es nun so heiss, dass selbst ein T-Shirt als zu warm erscheint. Der Schweiss brennt in den Augen und extrem heisse Windböen schlagen uns immer wieder ins Gesicht. Als wäre das nicht genug, beginnt die Strasse nun auch noch anzusteigen. Kurze knackige Anstiege gefolgt von kurzen steilen Abfahrten. Das macht dann ungefähr 15 Minuten für den Aufstieg und eine knappe Minute auf der anderen Seite wieder runter. Also einmal komplett nassschwitzen und danach innert Kürze wieder durch den Fahrtwind trockengeblasen. Kurz vor dem Campingplatz ist Aldo so fertig dass er sich tatsächlich überlegt das Zelt direkt neben dem Highway aufzubauen. Wir können ihn aber überzeugen noch 10 Kilometer durchzuhalten, und so rollen wir zu dritt (ausnahmsweise mal alle zusammen) durch den Eingang eines weiteren State Park Campingplatz. Die Mitarbeiter haben bereits Feierabend gemacht, weswegen das Bezahlen am nächsten Tag erledigt werden muss… vielleicht. Wie immer treffen wir auf andere Radfahrer und heute Abend ist es eine französische Familie, welche mit ihren beiden Kindern von Seattle nach San Francisco fährt. Zusammen spielen wir eine Runde «Bruce» (Kartenspiel bei welchem die besten Freunde zu den schlimmsten Feinden werden (ähnlich wie bei Mario Kart)) und hüpfen anschliessend unter die Dusche bei welcher das Wasser mindestens 5 Grad kälter aus dem Hahn sprudelt. Dusche kaputt? Nope! Da es draussen noch immer gemütliche 23 Grad warm ist, können wir beim warmen Wasser etwas runterschrauben. Schöne Abwechslung, doch im Hinterkopf sprudelt bereits etwas anderes. Nämlich die Vorahnung dass es am nächsten Tag zurück an die Küste und somit zurück in den Nebel und in die Kälte geht. Aber heute ist heute, und heute ist perfekt – zumindest die Temperatur.
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Die Höhenlinie von maps.me, der Offline-Karte, lügt manchmal. Während der Streckenverlauf inklusive Höhenlinie mehr oder weniger stimmt, weicht die Anzahl Meter welche geklettert werden muss meistens enorm ab. Heute sagt die Höhenlinie ein kurzes klettern voraus, gefolgt von einem fast 35km langen Downhill – die Meterangabe überprüfe ich gar nicht, die Höhenlinie reicht aus für eine gute Stimmung. Und genau so kommt es auch. Cookie, Aldo und ich klettern auf einer fast autofreien Strasse langsam in Richtung Gipfel. Obwohl es noch früher Morgen ist, zieht bereits ein warmer Wind durch unsere Speichen. Zwischen den Baumwipfeln ist ein stahlblauer Himmel zu erkennen und trockenes Gras bildet einen Graben zwischen Strasse und Wald. Aus den Kopfhörern trällert Ben Harper ein rhythmisches schon fast Country mässiges Lied, und den «American Way of Life» war noch nie mehr spürbar wie genau jetzt in diesem Moment. Ein kleines Lächeln liegt auf meinem Gesicht und pures Glück schiesst durch meine Adern. Dieser Morgen ist einfach perfekt und jetzt kommt auch noch ein nicht enden wollender Downhill! In Serpentinen schlängelt sich die Strasse auf der anderen Seite runter in Richtung Ozean. War vorher die Morgenluft schon fast ein bisschen zu warm, so wirkt sie nun dank der hohen Geschwindigkeit extrem kalt. Oder hat sich hier etwas geändert seit dem Start auf dem Gipfel? Eigentlich müsste es ja wärmer werden mit abfallender Höhe… doch es wird tatsächlich kälter. So kalt dass ich anhalten muss um wärmere Klamotten überzuziehen. Noch während ich die Spanngurte vom Gepäckträger löse, kann ich es riechen. Der feuchte Duft von Wolken (ja Wolken kann man riechen!). Die Baumwipfel über mir pflügen sich wie einen Kamm durch die Wolken welche in Richtung Osten ziehen – der Nebel kommt wieder näher. Und mit ihm die kalte Luft welche direkt vom Ozean nach Südosten zieht. Als wir die Küste erreichen sind wir endgültig vom Nebel umzingelt und beschliessen im nächsten Campingplatz Feierabend zu machen. Während Aldo schlafen geht, fahren Cookie und ich ins nächste Dorf um Kalorien zu tanken. Für mich gibt es einen etwas überdimensionierten Burger im Denny’s und für Cookie irgendwas Veganisches. Nachdem wir auch noch etwas für’s Abendessen im nächsten Supermarkt eingekauft haben, ist das Tagesbudget mal wieder um fast das doppelt überschritten. Shit happens, aber dafür ist die Stimmung nun wieder besser.
Die Tage an der Küste werden wettertechnisch nicht besser. Wir kämpfen uns jeden Morgen aus unseren warmen Schlafsäcken an die kalte feuchte Luft und fahren anschliessend halbblind durch den Nebel, bis dieser dann gegen Mittag von der Sonne verdrängt wird. Am drittletzten Tag vor Ankunft in San Francisco steht die härteste Etappe an: 114km und fast 2000hm klettern. Cookie und ich ziehen’s durch, Aldo bewältigt einen Teil per Autostopp. Dass das Eingangstor vom Campingplatz aufgrund des Nebels fast nicht sichtbar ist, trägt wenig zur Aufmunterung bei. Den Rest erledigt der Muskelkater. Kurzum, wir sind ziemlich fertig und freuen uns auf die Dusche… welche man mit Quarters (25 Cent (logisch oder?)) bezahlen muss. Geizkragen!
Einzige Motivation jeweils um aus dem Schlafsack zu kommen ist der Blick auf die Karte. San Francisco ist so nah, dass wir schon fast die Spitze von der Golden Gate Bridge sehen können. Also beginnen wir auch wieder unsere Räder über Nacht abzuschliessen, denn San Francisco ist auch bekannt für seine Raddiebe. Radreisende aus der Bay Area erzählen uns abends Horrorstory’s. Von Laufrädern bis zum Sattel wird anscheinend alles gestohlen was nicht niet und nagelfest verschraubt ist. Die Vorfreude weicht der Angst, denn für uns ist das Rad nicht weniger als unseres Zuhause.
Dennoch erreichen wir gute zwei Wochen nach Abfahrt in Seattle den kleinen Vorort Sausalito. Von dort aus ist es nur noch einen Katzensprung nach Downtown San Francisco, denn nur noch der Eingang der Bucht muss über eine Brücke überquert werden. Doch Halt! Nicht einfach irgendeine Brücke, sondern die wohl bekannteste der Welt. Ein gigantisches Ungetüm aus rotem Stahl bäumt sich vor uns auf. Die zwei Türme in der Mitte sind so hoch, dass die Wolken die Spitzen verdecken. Ein nicht enden wollender Strom aus Fahrzeugen rollt über die 6-spurige Fahrbahn. Links davon bleibt ein kleiner Streifen für Fussgänger und Radfahrer, welcher aus geschätzt 98 Prozent Touristen besteht. Viele mieten sich ein Fahrrad auf der anderen Seite und fahren mal kurz aus Spass über die Brücke und zurück. Dies alles macht den Streifen zum wohl verkehrsreichsten Fahrradweg auf welchem ich bisher überhaupt unterwegs war – wie nervig!
Kaum in der Stadt angekommen, zeigt uns Amerika wieder sein anderes Gesicht. Das Gesicht der grossen Gegensätzen. Während teure Automarken aus Europa über die Strassen brausen, liegen am Rand die Menschen welche es im «Land of the free» nicht geschafft haben. Ich dachte immer dass ich alles was es an Armut gibt in Indien gesehen habe, doch was sich hier in den Staaten abspielt ist doch nochmals ein ganz anderes Kaliber. Die Menschen liegen wortwörtlich im Dreck, hausen in zerfetzen Zelten oder liegen auf vergammelten Matratzen unter nach Kot und Urin stinkenden Autobahnbrücken. Die meisten davon sind so stark betrunken oder auf Drogen, dass sie unablässig rumschreien oder einfach nur irgendwelche Flüche in den Smog der Grossstadt herauslassen. Der grosse Unterschied zur Armut welche ich in anderen Ländern gesehen habe liegt aber in den Augen der Obdachlosen. Während diese an den anderen Orten für ein besseres Leben kämpfen, so sind diese Augen tot und es scheint als wäre die Hoffnung gestorben. Mit einer gewissen Hautfarbe oder Religion hat man hier einfach schon von Anfang an verloren und es ist schon fast verständlich dass diese Leute aufgegeben haben. Der Anblick von Obdachlosen in Amerika schmerzt daher noch fast mehr als wie die Armut welche ich in Indien zu sehen bekommen habe.
Wir verlassen San Francisco und fahren mit der U-Bahn rüber nach Oakland, welches sich auf der anderen Seite der Bucht befindet. Hier wohnt eine Kollegin von Cookie bei welcher wir übernachten können. Für den Abend ist eine Party geplant und für den nächsten Abend ein Konzert. Und sowieso ist dazwischen überall Zeit etwas zu feiern. Im Hinterhof probt eine Tanzgruppe für eine bevorstehende Show, die Dusche ist besetzt von einer Band namens «TV-Heads», die Wände sind bunt bemalt und mit Peace-Zeichen übersät, Aldo und ich sind die einzigen Heterosexuellen Menschen im Haus und auf dem Stubentisch liegt ein beachtlicher Haufen Cannabis. Was fehlt? Ach ja, die Blumen im Haar – also im Helm!
Es mag hier zwar Oakland sein, aber es ist noch immer einen Teil von San Francisco. In diesem Sinne: If you’re going to San Francisco….
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