Es gibt viele Sachen die man während einer Radreise um die Welt so lernt. Und die wohl wichtigste bis jetzt war für mich die Erkenntnis, dass alles kommt und alles geht. Nichts bleibt für immer, und das einzige was wir wirklich haben, ist der Moment. Immer wieder wird diese Vergänglichkeit sichtbar. Und das was mir vor kurzem passiert ist, ist ein typisches Beispiel für diese Vergänglichkeit…
Frazer Canyon / 06:35 Uhr / 13 Grad. Der kalte Wind weht mir die letzte Müdigkeit aus den Augen. Wie gerne wäre ich noch etwas im Zelt liegen geblieben – nicht dass es dort wärmer wäre, aber wenigstens Windstill. Doch ich habe keine andere Wahl, denn wildzelten in Kanada ist, wie so oft, illegal und deswegen muss ich den kleinen Platz hinter einer stillgelegten Tankstelle verlassen bevor die ersten Bewohner auftauchen. Es ist bereits der zweite Tag im Frazer Canyon, für welchen ich eigentlich nur einen Tag eingeplant hatte. Doch der Gegenwind ist so stark, dass selbst bei einem Gefälle von 9% nur noch 15km/h erreicht werden.
Bilder vom Frazer Canyon (als noch schönes Wetter war)
Kurz nach dem Start ist auch schon die erste Pause fällig, denn meine Finger sind bereits nach 10 Kilometer so tiefgefroren, dass kein Gefühl mehr für die Bremse und Schaltung vorhanden ist – zudem blieb aufgrund der «Flucht» vom Schlafplatz noch keine Zeit um Kaffee zu kochen. Während das Wasser langsam seinen Siedepunkt erreicht, erscheint ein verschlafener Besitzer von dem Motel vor welchem ich den Kocher aufgebaut habe. In seinen Blick kann ich erkennen, dass er nicht gerade gut gelaunt ist. So kommt dann auch nicht ein «good morning» aus seinem Mund, sondern nur einen Hinweis dass ein «Volk» wie ich hier nichts zu suchen hat. Vielen Dank und noch einen schönen Tag du Ar…….!
Der Gegenwind wird nicht besser, aber immerhin schafft es die Sonne ein paar Mal zwischen der dicken Wolkendecke hindurch zu schauen, was immer einen enormen Temperaturunterschied verursacht, denn schliesslich ist es bereits Mitte Juni und die Sonne hat eine enorme Kraft. Dennoch bin ich ziemlich tiefgefroren, als ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit einen unbewohnten Rastplatz finde. Grosse Schilder weisen darauf hin, dass campen hier verboten ist, aber diese Schilder hängen sowieso immer an den fürs wildzelten guten Plätzen. Also stelle ich mich gegen das Gesetz und baue ein bisschen versteckt hinter dem WC-Häusschen das Zelt auf. Gegen 2 Uhr Morgens wache ich dann zu uralter Gangster-Hip-Hop-Musik auf, welche ein paar Jugendliche auf dem Parkplatz aus ihren Boxen dröhnen lassen. Wohl doch nicht so ein guter Platz zum schlafen. Eine vorbeifahrende Polizeipatrouille bereit dem Lärm glücklicherweise schnell ein Ende und das, ohne mich hinter dem WC-Häusschen zu entdecken. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?
Am nächsten Tag klopfen dicke Regentropfen ans Zelt und selbst mit der Jacke in dem warmen Schlafsack ist es noch bitterkalt. Ich habe überhaupt keine Lust aufs Rad zu steigen, weiss aber dass es schlicht keine andere Möglichkeit gibt – Ich muss nach Süden kommen um wieder besseres und wärmeres Wetter zu haben. Immerhin hat der Gegenwind seine Kraft verloren und so komme ich gegen Abend in einer Stadt an der Grenze zu den USA gelegen an. Alle Kleider in den Packtaschen sind dreckig und benötigen dringend eine Wäsche, weswegen ich zum ersten Mal in einen typischen Waschsalon gehe welchen wir Westeuropäer sonst nur aus den amerikanischen Filmen kennen. Es ist bereits nach 18:00 Uhr und ich habe noch immer keine Ahnung wo ich diese Nacht schlafen werde, weswegen ich einen Obdachlosen vor dem Eingang zum Waschsalon um Hilfe bitte. Meine Frage verwirrt ihn zwar ein bisschen, aber schliesslich erklärt er mir welche Parks besonders unsicher sind und in welchen die Polizei kontrolliert. Mit seiner Hilfe finde ich schlussendlich eine ruhige Ecke in einem Stadtpark welche die vorbeifahrenden Polizisten nicht sehen können – natürlich hat es auch hier wieder Schilder welche das Campieren verbieten. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?
Bilder auf Instagram
Die ersten Meter in den USA bestätigt mir eines: Es ist genau gleich wie in Kanada. Gleiche Strassenqualität, gleiche Signalisierungen, gleiche Autos & Verkehr. Dies war nicht immer so auf der bisherigen Reise. Der Grenzübergang von der Türkei in den Iran zum Beispiel war wie eine Zeitreise, da auf der anderen Seite uralte Autos unterwegs waren und selbst der Highway in einer etwas fragwürdigen Verfassung war. Ebenso von Thailand nach Myanmar oder Thailand nach Kambodscha. Was aber definitiv anders ist in den USA ist die wunderschöne Frage welches dieses Land auszeichnet: «you like some more coffee?» – unbegrenzt Kaffee in den Restaurants und Raststätten. Mit so viel Koffein in den Adern fliege ich nun in Richtung Seattle und erreiche kurz vor Sonnenuntergang die kleine Stadt Arlington, welches bereits eine Vorstadt von Seattle ist. Es würde hier einen Campingplatz geben, also so rein theoretisch. Mit Preisen von über 20$ liegt dieser aber weit über meinen Möglichkeiten und so wird es mal wieder Zeit sich auf die Suche zu machen für einen Platz zum wildzelten. Ich will definitiv nicht nochmals in einem Stadtpark übernachten, denn nochmals so viel Glück nicht ausgeraubt oder von der Polizei entdeckt zu werden, werde ich wohl kaum ein zweites Mal haben. So ende ich schlussendlich auf der Wiese einer Kirche, welche etwas am Stadtrand gelegen ist und von der Hauptstrasse aus nicht sichtbar ist. Einen optimalen Ort wo ich endlich mal beruhigt zu etwas Schlaf kommen kann… wäre da nicht der Mormone, welcher in seinem Auto auf dem Parkplatz der Kirche wohnt und jetzt mit mir über Gott sprechen möchte. Nach elendig langen 2 Stunden Gesprächen über den Sinn und Zweck unseres Leben und was Gott dabei für eine Rolle spielt, weiss ich eines: das wird ebenfalls mal wieder eine kurze Nacht. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?
Bereits um 5:30 Uhr klopft jemand an das Zelt und sofort weiss ich auch wer der Übeltäter ist, welcher mich soeben aus dem Schlaf geholt hat. Es wird Zeit zum Beten, resp. so schnell wie möglich die Sachen zu packen und nach Seattle weiterfahren. Heute steht immerhin ein gemütlicher Tag an, denn in nur 50 Kilometern wartet das Boeing Werk und somit auch ein Kollege bei welchem ich übernachten kann – endlich mal wieder in einem beheizten Raum in einem normalen Bett schlafen. Ohne irgendwelche Party-Jugendliche oder Mormone. Die Nachricht auf dem Display, welche ich kurz nach der Besichtigung der Boeing Werke erhalten habe, spricht allerdings eine ganz klar andere Sprache. Mein Kollege kann mich nicht abholen kommen und seine Wohnung liegt im Süden von Seattle – ganze 80 Kilometer entfernt! Mir wird klar dass es wieder eine Nacht im Zelt gibt, aber nur wo? Denn mittlerweile befinde ich mich mitten im städtischen Gebiet und hier wimmelt es nur so von komischen Gestalten. Durchnässt und völlig tiefgefroren rase ich durch Everett, einen Vorort von Seattle, während meine Augen vom rechten zum linken Strassenrand rüber huschen. Immer wieder. Dennoch ist kein Schlafplatz in Sicht. Alle möglicherweise gute Plätze sind mit Tafeln wie «No Trespassing» oder «Stay out!» beschriftet und da in den USA praktisch alle irgendwelche Schusswaffen besitzen, traue ich mich nicht diese Tafeln zu ignorieren. Irgendwann, es ist bereits komplett dunkel, beschliesse ich ein billiges Motel aufzusuchen. Doch heute ist definitiv nicht mein Glückstag, denn alle Motels sind ausgebucht. Ich fahre weiter durch die dunkle Nacht. Blaulicht und Sirenen durchbrechen die Dunkelheit und die Stille, Regen plätschert auf meine ohnehin schon durchnässte Jacke und die Kälte bohrt sich tief unter die Haut – Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?
Dem Lächeln kann ich nicht widerstehen und ihr Blick spricht genau das aus was man durch die laute Musik nicht hören kann. Es wird Zeit mal wieder zu tanzen! Während die Leute laut applaudieren tanzen wir über die Gartenterrasse, während sich ein weiterer warmer Sommertag dem Ende zu neigt. Die Dame an meiner Hand könnte mit 89 locker meine Grossmutter sein, und obwohl sie es nicht ist, fühle ich mich gerade ein bisschen wie in einem zweiten Zuhause. Unglaublich, denn vor 3 Tagen stand ich verloren im Regen auf den Strassen Seattles und wünschte mir zurück bei meiner Familie in der Schweiz zu sein. Und nun bin ich hier bei einer Familienfeier in Portland… Was ist passiert?
Nun, als auch das letzte einigermassen günstige Motel ausgebucht war, durfte ich mich dort wenigsten kurz in das Internet einloggen. Aldo, ein Radreisender aus Frankreich welchen ich vor 8 Monaten im Iran kennengelernt habe, arbeitet auf einer kleinen Insel vor Seattle und hat mir bereits noch vor dem Abflug in Seattle Asyl auf der Insel angeboten. Nachdem so viel schief gelaufen ist, hatte ich an jenem späten Dienstagabend wenigstens etwas Glück, denn Aldo war Online und hat sofort meinen verzweifelten Hilferuf empfangen. Ein paar Stunden später, bereits weit nach Mitternacht, verliess ich die letzte Fähre nach Kingston Island und wurde nicht nur von Aldo, sondern auch von seiner Gastfamilie mit offenen Armen empfangen. In ihrem wunderschönen Blockhaus zwischen Bäumen direkt am Meer gelegen darf ich mich nun von den Strapazen der vergangenen Tagen erholen, bevor Aldo und ich zusammen weiter in Richtung Süden reisen.
… alles kommt und alles geht. Genauso wie die schlechten Zeiten. Man muss nur manchmal etwas durchhalten – und ein bisschen Glück kann auch nicht schaden 😉
Weitere Bilder von Seattle sowie Ausflüge