Was zum Teufel mache ich hier eigentlich und wieso?
Nach fast 17’000km (16’948 wenn es jemand genau wissen will), ist es wohl diese Frage, welche ich mir bisher mit Abstand am meisten gestellt habe. Dabei ist die Antwort so einfach wie genial – weil es einfach das beste ist, was man überhaupt machen kann! Wieso? Nun es gibt zahlreiche Gründe für eine Radreise, aber für mich sind diese hier die wichtigsten:
1.Sich selbst kennenlernen
Jemand der kein «Reisefüdli» ist, wird diesen Grund nicht verstehen, alle anderen aber wahrscheinlich schon. Ich weiss nicht wie man sich selbst kennenlernen kann, ohne die eigene Komfortzone zu verlassen. Jeder sollte einmal in seinem Leben für eine längere Zeit das heimelige Nest verlassen um seinen eigenen Horizont zu erweitern und um sich unbeschwert Gedanken über das eigene Leben zu machen. Viele Handlungen in der Vergangenheit wurden mir erst richtig bewusst, nachdem ich bereits weit weg von der Schweiz war. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen – manche betreffen nur die Wahl eines Getränks im Café, andere verändern dein Leben für immer – und doch ist uns bei vielen Entscheidungen unser Beweggrund nicht richtig klar. Durch das Reisen konnte ich viele solche Handlungen aus einem anderen Licht betrachten und mehr über mich selbst erfahren. Ich denke dass dies sehr wichtig ist um die Zukunft sowie Tatsachen besser verstehen zu können. Dieser Punkt betrifft sicherlich jede Art von Reisen, aber beim Radreisen hat man seeeeehr viel Zeit darüber nachzudenken 😉
2. Sich selbst kennenlernen – physisch
Es gibt diese Momente wo einem eine Gänsehaut durchfährt und man nur noch endlos glücklich ist. Beim radfahren sind es oft Momente wo man etwas erreicht hat, was man vorher noch für unmöglich gehalten hat.
Zum Beispiel die ersten 10’000km – war bei mir irgendwo draussen in den Reisfeldern Kambodschas, und für 99.9999999% der Menschheit ist dieser Ort nur ein dreckiger Fleck, für mich jedoch ein Ort des Triumphes. Oder wenn man gerade in weniger als zwei Wochen 1450 Kilometer gestrampelt ist. Es gibt noch so vieles mehr, was man während einer Radreise erreicht, was man vorher nie für möglich gehalten hat. Unser Körper ist ein Wunder und zu unglaublichem fähig. Wer jedoch nur auf der Couch rumgammelt, wird dies nie rausfinden. Natürlich zeigt einem eine Radreise auch die Grenzen auf, und wenn man diese einmal erreicht hat, wird ganz bestimmt jeder alles dafür tun um nie mehr an diesen Punkt zu gelangen. Bei mir war dies in Laos der Fall, als ich nach einer anstrengenden Bergetappe völlig ausgehungert und halb verdurstet in einem Dorf ankam und die Leute nicht mehr verstand, da das Blut so laut in meinen Ohren rauschte. Leider gehört auch dies dazu um seinen eigenen Körper kennenzulernen.
3. Freiheit
Klar könnte man auch einfach einen Rucksack packen, den nächsten Flieger besteigen und ein paar Stunden später unter Palmen an einem kitschigen Strand abhängen. Dies stellt für mich jedoch nicht «Freiheit» dar, denn man ist abhängig von vielen anderen: Airlines, Transportunternehmen, Hotels, Restaurants ja sogar dem Wetter (welches wiederum die Transportunternehmen beeinflusst). Während meiner Reise in Südostasien ist mir das extrem aufgefallen, jedes Mal wenn ich mit Rucksackreisenden gesprochen habe. Abgesehen davon dass praktisch alle identisch aussehen (Stoffhosen mit Elefanten, Tanktops mit irgendwelchen Biermarken, FlipFlops von Havaianas und eine Plastikfolie über dem frisch gestochenen Tattoo), reisen auch alle an die gleichen Orte. Und wieso? Ganz einfach, dort fahren die Busse/Züge/Minivans hin. So sind dann auch die Konversationen unter Rucksackreisenden ungefähr so:
A: Wo kommst du her?
B: Koh Panghan
A: Oh ja da war ich vor 2 Wochen auch. Wohin gehst du als nächstes?
B: Chiang Mai
A: Da war ich gerade vor 3 Tagen. Als nächstes fliege ich nach Angkor Wat
B: Ja das ist schön, da bin ich gestartet.
usw.
Ganz ehrlich… ist das die Freiheit von welcher alle Backpacker reden? Die Regierung lenkt die Touristenströme ganz einfach dorthin, wo sie sie gerne haben möchte.
Als Radreisender kann einem das aber alles egal sein, denn hat man erst einmal die Grenze überquert, stehen einem tausende Strassen und Routen offen – an Orte wo alle hinwollen, oder an Orte wo noch nie ein Tourist gesichtet wurde. So wird das Gespräch mit Rucksackreisenden bereits bei der ersten Frage schwierig, denn die Antwort auf «Wo kommst du her?» wird dieser wohl noch nie vorher gehört haben. Ich möchte nicht von A nach B reisen, sondern vor allem auch die Orte dazwischen sehen.
4. Kulturen richtig kennenlernen
Dieser Punkt geht etwas Hand in Hand mit dem vorherigen, denn wenn man in abgelegenen Orten unterwegs ist, hat man gar keine andere Wahl, als wie sich anzupassen. Wer nach Tagen ohne Zivilisation mal wieder in einem Dorf mit EINEM Restaurant ankommt wird so ziemlich alles essen was da auf der Speisekarte steht – auch wenn es pürierte Fischköpfe oder frittierte Hähnchenfüsse sind. Abgelegene Orte sind zudem auch ein Garant für Unverfälschtheit, denn wo keine Touristen sind, hat man sich auch nicht auf diese angepasst und lebt seine Kultur so wie sie bereits von Generationen übermittelt wurde. Und nicht so, damit es ein gutes Selfie für die Kamera gibt. Die Unverfälschtheit findet sich auch in den lachenden Gesichtern am Strassenrand oder in den vielen freundlichen Hallo-Rufen der Kinder und Erwachsenen wieder, welche sich freuen mal eine andere Hautfarbe zu sehen – oder einen Farang welcher bei unglaublichen 40 Grad mit einem vollbepackten Rad über die Hügel trampelt (was für ein Idiot 😉) .
Hier möchte ich auf jeden Fall auch noch die verschiedenen Religionen erwähnen, welchen man auf einer Radreise begegnet. Denn diese stehen in vielen Kulturen im Mittelpunkt und wer offen und interessiert ist dafür, wird einen ganz tiefen Einblick in die Praktizierung der jeweiligen Religion erhalten. Mal in einem Tempel schlafen und das Abendritual mit den Mönchen verbringen oder mit einem Imam den Sinn des Lebens zu diskutieren ist eine Erfahrung welche nicht nur für immer bleibt, sondern auch die eigene Einstellung zur Welt für immer verändern kann.
5. Make friends und nicht «Hello my friäääänd!»
Etwas was mich extrem nervt an touristischen Orten sind die vielen zwielichtigen Gestalten welche alle deine Freunde sein wollen, während sie dir irgendwelchen Kitsch um die Ohren hauen. «Hello my Friääänd» oder «Hey Boss» hört man an jeder Strassenecke – dies mag gut sein, wenn man neue «Freunde» sucht oder sein Selbstbewusstsein aufbessern möchte, nervt jedoch unglaublich wenn man nur von A nach B möchte (dies sind übrigens auch die Orte mit den Elefanten-Hosen und Bier-Tanktops, klingelts?). Es scheint, als könnten Reisende in solchen Ländern keine echten einheimische Freunde finden, sondern «nur» andere Reisende.
Aber glaubt mir, dies ändert sich schlagartig sobald ihr auf zwei Räder unterwegs seid. Denn wer spätabends in einem abgelegenen Dorf ankommt, völlig verschwitzt und ausgelaugt, für den wird sogar die eigene Oma aus der Hütte geworfen damit der Fremde ein Bett zum übernachten hat (ist mir nicht passiert, habe ich aber von einem anderen Reisenden gehört). Was bleibt sind nicht nur sehr intensive Eindrücke, sondern auch sehr oft Freundschaften welche lange anhalten. Wenn ich so durch meine Facebook-Freunde scrolle, sind tatsächlich von jedem Land in welchem ich unterwegs war neue Freunde vertreten. Und mit vielen stehe ich fast täglich in Kontakt! Es ist interessant zu sehen wie der Alltag in den verschiedenen Ländern ist und wie sich meine neuen Freunden den Herausforderungen stellen oder auch ihre Wünsche und Träume verwirklichen. Ich kanns kaum erwarten diese wieder zu sehen!
6. Entschleunigung
Eine Radreise ist langsam… okay schneller als wie wandern, aber auch viel langsamer als wie mit einem Auto oder Flieger. Doch genau dies macht den Reiz einer Radreise aus. Es tut gut einfach mal alles etwas langsamer anzugehen als wie es in unserem stressigen westlichen Leben der Fall ist. Und mit jedem Tag mehr im Sattel spürt man wie man ruhiger wird. Tauchen neue Probleme auf, stellt man sich diesen mit sehr viel mehr Geduld und erlebt man einen Moment des Glücks, kann man sich voll und ganz auf diesen einlassen – ohne irgendwelche ToDo’s und Deadlines im Hinterkopf zu haben. Durch den langsameren Reisestil kann man auch sehr viel mehr seine Umgebung wahrnehmen. Die verschiedenen Pflanzen und Tiere aber auch Kulturen welche sonst nur am Fenster vorbeiflitzen, werden so sicht- und greifbar.
7. Minimalismus
Alles was man im Leben wirklich braucht lässt sich bequem auf einem Gepäckträger festzurren. Ohne Scheiss, glaubt mir das! Doch wir leben im kompletten Überfluss – unsere Schränke quillen über mit Klamotten welche wir vielleicht einmal im Jahr anziehen, in unserem Keller stapeln sich hunderte Paare von Schuhe obwohl wir doch nur zwei Füsse haben und jeder Schweizer besitzt im Schnitt 1.5 Handys (möchte mal sehen wie man mit 1.5 Handys gleichzeitig telefonieren kann). Wir sind Meister des Überfluss und so gut darin, dass sich viele bereits Lagerräume anmieten müssen. Doch macht mehr wirklich glücklich?
Bevor ich losfuhr verkaufte ich mein ganzes Hab und Gut. Alles was nicht in die Taschen passte fand sich kurze Zeit später auf ebay und ricardo wieder. Und nach zwei Wochen auf der Strasse sendete ich bereits das erste Paket mit Sachen welche nicht länger benötigt wurden zurück in die Schweiz (es folgten noch weitere Pakete). Jedes Gramm mehr in den Taschen muss schliesslich auch über die Berge und durch den Gegenwind gefahren werden. Was jetzt noch in meinen Taschen ist, ist das was ich wirklich brauche. Und das ist so wenig wie ich es nie erwartet hätte. Das was jetzt noch in meinen Taschen ist, sind die Gegenstände die mich glücklich machen, denn es sind meine Lieblingssachen. Meine Lieblingshose, mein Lieblingsshirt, meine Lieblingssonnenbrille… Wer sich nach einem Tag im Einkaufszentrum noch immer leer fühlt, sollte vielleicht mal seine Handlungen umkehren und damit beginnen Sachen loszuwerden anstatt weiter anzuhäufen. Die örtlichen Secondhand-Shops oder Brockenhäuser freuen sich auf dich!
Klar gibt es noch viele weitere Gründe für eine Radreise und fürs Reisen allgemein. Und klar gibt es auch Gründe eine Radreise zu beenden um mal wieder ein geregeltes Leben zu haben. Meine Freunde von Cycletrekkers haben diese hier festgehalten.
Wie auch immer eure Zukunftspläne aussehen, ich hoffe euch mit diesem Blogpost etwas für’s Radreisen inspiriert zu haben. Was für mich als Hirngespinst angefangen hat, ist nun mein Leben und die Entscheidung dieses Nomadenleben zu führen habe ich bisher keine einzige Sekunde bereut. Also kann ich euch nur empfehlen da rauszugehen und die Welt zu erkunden – mit oder ohne Rad 😊