Raus aus Sofia, rein ins Backcountry
Die drei Ruhetage in Sofia haben gut getan und so verlassen Tim und ich die Hauptstadt Bulgariens voller Elan. Jesse ist für ein Vorstellungsgespräch kurz zurück nach England geflogen und wird uns dann in Istanbul wieder treffen. Somit teile ich nun nur mit Tim die Strassen in Richtung Osten.
Der Verkehr raus aus der Stadt ist wie immer ein Abenteuer und dank fehlender Radstreifen ein Drahtseilakt zwischen Leben und Tod. Schnell erreichen wir zum Glück den Highway, auf welchem wir den gesamten Pannenstreifen nur für uns alleine haben. Zudem haben wir Rückenwind und fliegen somit mit 30km/h in Richtung türkischer Grenze während links und rechts die bulgarischen Bergen für eine grossartige Aussicht sorgen. Nach ein paar dutzend Kilometer sind die Berge aber plötzlich nicht mehr neben uns, sondern bauen sich direkt vor uns auf. Somit heisst es wieder Höhenmeter fressen. Am frühen Nachmittag erreichen wir die höchste Stelle und einen kleinen Ort namens Ihtiman in welchem wir uns einen Platz für die Mittagspause im Park suchen. Der Ort ist ausserordentlich schön und aufgeräumt und erinnert stark an eine westeuropäische Stadt. Schnell gesellen sich einheimische Kinder und Jugendliche zu uns, und mit Händen und Füssen erklären wir unser Vorhaben. Als wir später aufbrechen, begleiten uns die Einheimischen sogar noch – die Kinder bis zur Stadtgrenze und die Jugendliche ganze 25 Kilometer!
Ab in die Türkei
Nach einer weiteren Nacht wildzelten erreichen wir Svilengrad, die letzte Stadt vor der Grenze. Ab hier ist es nur noch einen Katzensprung bis zur Türkei. Also fahren wir nach einer kurzen Glacé-Pause weiter bis uns ein Polizist auf die Autobahn umleitet – ist jetzt nicht sein Ernst, oder? Aber was wollen wir machen… die Polizei in Bulgarien wollen wir nicht hier kurz vor der Grenze verärgern, weswegen wir widerwillig die Autobahnauffahrt hinaufrollen. Der Verkehr ist wie erwartet die Hölle, aber dafür wieder international. Wir sehen Kennzeichen von Deutschland, Holland, Frankreich, England – und sogar ein paar Schweizer sind darunter! Nach einem letzten Hügel steht sie vor uns – Gross, Mächtig und unüberwindbar (zumindest augenscheinlich) – die Grenze zur Türkei!
Bis jetzt waren wir noch völlig entspannt unterwegs, aber nun steigt der Puls. Obwohl Tim sein Visa hat und ich als Schweizer ganz easy das Visa on arrival erhalte, werden wir langsam aber sicher nervös. Vor der Grenze das übliche Bild: Lastwagen und Autos stehen kilometerweit an, überall genervte und gestresste Gesichter. Als Radfahrer nehmen wir uns aber natürlich den Vortritt und schlängeln uns gemütlich durch die Kolonne. Wenige Meter vor dem Zollhäusschen ist aber Schluss und wir müssen uns in der brütenden Hitze einreihen. Die Leute vor uns stehen bereits seit 10 Uhr in der Schlange (mittlerweile ist es 16:00 Uhr), da am Morgen ein technischer Defekt alles lahmgelegt hat. Als wir endlich an der Reihe sind, geht alles ganz schnell. Der Zollbeamte freut sich über die verrückten Radfahrer und stempelt unsere Pässe mit einem grossen Grinsen im Gesicht. Auch die Taschenkontrolle – und wir haben viele Taschen – geht ohne Probleme über die Bühne.
Nach ungefähr einer Stunde am Grenzübergang rollen wir zum ersten Mal über die türkischen Strassen. Nächster Stopp Edirne!
Vom Gegenwind in die urban Hölle
Der nächste Tag beginnt zu unserem Bedauern gleich wie der letzte geendet hat – Gegenwind und viele Hügel. Wir kämpfen uns bis nach Babeski wo wir eine Kaffeepause geniessen und anschliessend weiter bis nach Lüleburgaz wo wir eine längere Mittagspause einlegen. Mit neuen Kräften stellen wir uns anschliessend dem Wind und fahren weiter nach Corlu. Im 3km-Takt wechseln wir uns mit Windschattenfahren ab und können so mehr oder weniger einen Schnitt von gerade mal 15km/h halten. In Corlu beziehen wir ein für unsere Verhältnisse zu teures Hotel, aber aufgrund fehlender Optionen, Uhrzeit sowie müder Beine bleibt leider keine andere Möglichkeit.
Die Beine sind auch noch am nächsten Tag ziemlich schlaff und so entscheiden wir uns nur einen kurzen Tag von max. 50km zu machen. An der Küste gibt es gemäss Google den einen oder anderen Campingplatz und so machen wir uns auf den Weg in Richtung Meer – Endlich! Der Wind ist am Morgen sehr gut und so fahren wir mit fast 30km/h über die Hügel, bis nach einer letzten Steigung endlich etwas blaues am Horizont auszumachen ist – das Meer!! Nach fast 3000km erreichen wir Silivri und somit die Sea of Marmara. Mit Pide und Ayran feiern wir die Ankunft am Meer direkt an der Küste. Zum Campingplatz sind es nur noch 16km und voller Tatendrang machen wir uns auf den Weg. Dort angekommen allerdings die bittere Enttäuschung.. den Campingplatz gibt es anscheinend nicht mehr. In der Hoffnung doch noch irgendwo etwas zu finden, fahren wir weiter in Richtung Istanbul. Die Gegend ändert sich mehr und mehr vom ländlichen ins urbane und so werden auch die Plätze an der Küste immer weniger – dort wo eigentlich die Campingplätze sein sollten. Mittlerweile sind schon wieder 70km auf dem Tacho und noch immer ist nix zu finden. Dadurch beschliessen wir ein Café mit WiFi zu suchen und nach Warmshower-Hosts und Hotels zu suchen. Ömer von Warmshowers antwortet sofort per Whatsapp und lädt uns zu sich nach Hause ein – er wohnt allerdings direkt bei Atatürk Flughafen und somit über 30km entfernt. Was solls, denn die Hotels in den Vororten sind alle überteuert und es gibt sonst schlicht nix anderes. Also ab aufs Rad und in den Stadtverkehr – welcher die absolute Hölle ist. Wenn ich vorher von fehlenden Radstreifen und Nahtod-Erlebnisse gesprochen habe, so multipliziert dies nun bitte mal hundert um nur ungefähr in die Nähe zu kommen was im Strassenverkehr von Istanbul passiert. Es ist Sonntagabend und der letzte Tag der 9-tägigen Ferien. Gemäss Locals fahren zurzeit ungefähr 5 Millionen von 15 Millionen Istanbuler zurück in die Stadt. Wir fahren auf einer Hauptstrasse mit jeweils 3 Spuren pro Fahrtrichtung, und dennoch habe ich durchschnittlich 3 Autos links und 3 Autos rechts von mir – welche allerdings alle in meine Richtung fahren. Wie viel Platz da noch für einen Radfahrer bleibt könnt ihr euch ungefähr ausrechnen 😉
Hammam – so lässt’s sich leben!
Die 106km vom Vortag stecken noch tief in unseren Beinen, weswegen wir uns entschliessen einen gemütlichen Ruhetag einzulegen. Ömer bucht für alle drei einen günstigen Eintritt in einen Hammam und gegen den späten Nachmittag kämpfen wir uns mit den Fahrrädern wieder durch den Verkehr ins Stadtzentrum. Durchgeknetet und völlig entspannt verlassen wir kurz vor Mitternacht den Hamman und Ömer und ich fahren mit der Metro zurück zu seiner Wohnung. Tim hat sich ein Airbnb-Zimmer gebucht und bleibt gleich im Zentrum. Ich beziehe allerdings erst am nächsten Tag ein Hostel im Zentrum und geniesse somit nochmals eine Nacht die Ruhe der Vorstadt.
In Istanbul bleibe ich für insgesamt 4 Nächte wobei abgesehen von Sightseeing vor allem Wartungsarbeiten an Chocolate, diverse Arbeiten am Blog sowie Visa-Beschaffung vorgesehen sind. Anschliessend fahre ich mit der Fähre nach Bursa und dann durch’s Land weiter nach Kappadokien von wo aus es nach Norden zur Küste vom Schwarzen Meer geht (ich will schliesslich auch mal etwas baden ;-))